1868 | Konzertflügel #944 Theodor Stöcker (Berlin)
Kurzcharakteristik: Technische Rarität! „Stöcker gehörte Mitte des 19. Jahrhunderts zu den besten Berliner Klavierbauern.“ (Speer) Der Flügel weist eine „oberschlägige Mechanik“ auf, das heißt, die Saiten werden von oben angeschlagen und die Hämmer mittels eines komplizierten Federsystems wieder in die Ruhelage zurückgeführt. Die Oberschlägigkeit bewirkte Klangreinheit und einen glockenartigen Klang, war jedoch in der Fertigung sehr teuer. Stöcker war nach Nanette Streicher (Wien) und Jean Henri Pape (Paris) neben Wornum (London) der letzte Hersteller oberschlägiger Mechaniken. Viele große Museen besitzen (meist nicht spielbare) Stöcker-Flügel. 2001 Restaurierung durch J.C. Neupert Bamberg.
Langtext: Bei diesem Instrument handelt es sich um einen Konzertflügel aus der Werkstatt eines führenden Berliner Klavierbauers, Theodor Stöcker (1811-1878). Stöcker baute von Ende der 1830er-Jahre bis zur Schließung seiner Firma aus Altersgründen bis auf wenige Ausnahmen einen einzigen Instrumententyp, einen Konzertflügel ca. 220 cm lang mit oberschlägiger Mechanik, Palisander furniert. Die Mechanik wurde im Laufe der Jahre kontinuierlich weiterentwickelt.
Theoder Stöcker lernte sein Handwerk bei Pape in Paris und gehörte in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu den besten deutschen Klavierbauern. P.A. Rudolf Ibach besuchte auf einer großen Rundreise am 29. Mai 1865 die Stöckersche Werkstatt und notierte in sein Tagebuch: "... zu Theodor Stöcker, Leipziger Straße, gegangen. Fabrikant von oberschlägigen Flügeln. Dieselben sind sehr schön gleichmäßig und wohlklingend, fast glockenartig. St[öcker] macht im Diskant auf der Platte eine eigene Vorrichtung zur Bequemlichkeit des Stimmens [Feinstimmer], während die Stimmnägel an dieser Stelle nur zum Aufziehen der Saiten dienen. [...] Die Mechanik ist eigenthümlich und sehr compliciert. - St[öcker] baut nur diese Sorte von Flügel in 2 Größen, arbeitet sehr solide, ist mit seinem Fache sehr vertraut, macht kein Aufsehen mit seinen Fabrikaten, verkauft aber dabei sehr viel, u[nd] macht gar nicht mit Händlern. St[öcker] betreibt sein Geschäft so, wie man eine Pianofortefabrik eigentlich betreiben soll, aber heutzutage nicht mehr kann. Wenn St[öcker] auf diese Weise ruhig fortarbeitet, so wird er bei dem Aufsehen und dem Geschrei, welches jetzt überall gemacht wird, der Welt bald unbekannt, und in sich selbst vergehen werden." Theodor Stöcker arbeitete rein handwerklich, also nicht industriell wie etwa Ibach. Viele Einzelteile des jeweiligen Instrumentes wurden je für genau dieses gebaut und weisen jeweils die Serien-Nummer auf.
Wie andere herausragende Klavierbauer (Streicher in Wien, Pleyel, Pape und Erard in Paris, nach ihm Bechstein und Duysen in Berlin), unterhielt Theodor Stöcker einen eigenen Konzertsaal in der Kochstraße 57, um seine Instrumente konzertant dem zahlungskräftigen Publikum näherzubringen. Konzerte sind von ca. 1844 bis in die Mitte der 1860er Jahre nachweisbar; für den Berliner Tonkünstlerverein war der Stöcker'sche Saal zugleich eine Art "Heimstatt".
Theodor Stöcker baute innerhalb von 33 Jahren etwas mehr als tausend Instrumente, von denen nach Forschungen des Stöcker-Experten Heiko Schwichtenberg (publiziert 1990) vielleicht vierzig erhalten sind (diese Zahl ist heute [2015] veraltet - der nachweisbare Bestand liegt vielleicht beim Doppelten). Wiederum nur ein Teil der erhaltenen Instrumente befindet sich in spielfähigem Zustand.
Der für die vorliegende Einspielung verwendete Konzertflügel mit der Fertigungsnummer 944 wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit 1868 gebaut; das Instrument wurde 2001 als erstes für die damals noch nicht als solche existente Sammlung Dohr erworben und von den Werkstätten für historische Tasteninstrumente J.C. Neupert Bamberg unter Wahrung der vollständig erhaltenen Originalsubstanz (einzig neu: die Befilzung der Hammerköpfe) konzerttauglich restauriert.
Provenienz: Erwerb 2001 aus kleiner Privatsammlung, nahe Aschaffenburg
Literatur:
- Oscar Paul, Geschichte des Claviers, Leipzig 1868, S. 136 u. 138
- Art. „Pianoforte“, in: Mendel/Reissmann, Musikalisches Conversations-Lexikon, Bd. 8 (1877), S. 85-91, hier S. 87
- Blüthner/Gretschel, Der Pianofortebau, 4. Aufl. Leipzig 1921, S. 25f.
- Pierce Piano Atlas, 8. Aufl. Termino/CA 1982, S. 288 („Theo Stocker)
- Gesine Haase: Der Berliner Pianofortebau, in: Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz (Hg.): Handwerk im Dienste der Musik. 300 Jahre Berliner Musikinstrumentenbau. Berlin 1987, S. 67-90 u. 136, 139
- Heiko Schwichtenberg, Der Klavierbauer Theodor Stöcker aus Berlin. Magisterarbeit TU Berlin masch. 1990
- Christoph Dohr: Die Instrumentensammlung des Musikwissenschaftlichen Instituts zu Köln. in: Werner Schäfke (Hg.): Die Musikinstrumentensammlung des Kölnischen Stadtmuseums, Köln und Kassel 1993, S. 19-44, hier S. 35f.
- Geraldine Keeling: Konzertklaviere in Deutschland. In: Der junge Liszt. Referate des 4. Europäischen Liszt-Symposions Wien 1991, hg. Von Gottfried Scholz, München u.a.: Katzbichler 1993, S. 68-76 (bes. S. 70-72)
- Hubert Henkel, Besaitete Tasteninstrumente (Kat. Slg.d. Deutschen Museums München), Frankfurt 1994, S. 168-171
- Jan Großbach, Atlas der Pianonummern, 9. Aufl. Frankfurt/Main 1999, S. 289
- Martha Novak Clinkscale: Makers of the Piano, 1820-1860. Oxford: Oxford University Press 1999, S. 358-360
- Konstantin Restle (Hg.): Faszination Klavier, München 2000, S. 114; Florian Speer, Ibach und die anderen, Wuppertal 2002, S. 98f. u. 105
Tonträger:
- DCD009: Friedrich Kiel, Das Klavierwerk Vol. 1 (Oliver Drechsel) 2002
- DCD011: Friedrich Kiel, Das Klavierwerk Vol. 2 (Oliver Drechsel, Wilhelm Kemper) 2003
- DCD013: Friedrich Kiel, Das Klavierwerk Vol. 3 (Oliver Drechsel, Wilhelm Kemper) 2004
- DCD023: Friedrich Kiel, Das Klavierwerk Vol. 4 (Oliver Drechsel, Wilhelm Kemper) 2011